Chömed Sie no drus?

Kleintheater Luzern, 9.2.2019: Der sechste Abend des Unfrisiert Festivals gehörte ganz dem Theater Hora aus Zürich. Angespannte, lachende, in Ekstase geratene Schauspielende und eine Band, die zum Stück «Bob Dylans 115ter Traum» den passenden Soundtrack lieferte. Im Kleintheater wurde es so bunt wie selten.

Titelfoto: www.hora.ch

Vor dem Eingang des Kleintheaters macht ein adrett gekleideter junger Mann auf sich aufmerksam. Mit einem dicken, bibelähnlichen Buch steht er an einem Bartisch und trägt ein Stück des Theaters auf die Strasse hinaus. «Und als ich fertig war, verlor ich meinen Schuh. Aber welchen Schuh? Die Schule, oder die Bank, oder wirklich ein Schuh?» Odylan – eine Mischung aus Bob Dylan Odysseus – leitet durch den Abend. 

Eine Figur, die zum Ensemble-Jubiläum passt: Dylan wie Odysseus waren während Jahren verschwunden, fanden aber ihren Weg. Das Theater Hora ist nun seit 25 Jahren auf Abenteuerfahrt. Gegründet von Regisseur Michael Elber, sorgten sie international für Aufsehen, arbeiteten auf ihrer Reise unter anderem mit Starchoreograf Jérôme Bel und Regisseur Milo Rau zusammen. Am Samstag bespielte das einzige professionelle Theater der Schweiz, deren Mitglieder*innen alle eine «IV-zertifizierte ‹geistige Behinderung›» (so Hora auf ihrer Homepage) haben.

Geschichte folgt Geschichte folgt... 

Es beginnt im Saal: Die Schauspieler*innen betreten die Bühne, werden als Homer, Odysseus und Bob Dylan vorgestellt. Die nächste Schauspielerin: auch Odysseus? Nein, reklamiert jener, der bereits Odysseus ist. Bob Dylan? Nein, auch den gibt's schon. Das muss Pelono…. Ponele… - Penelope sein, wie «pennen» und «loben», weiss Homer.

Sind die Figuren erst zugeteilt, wird ein Theater auf der Bühne inszeniert – ein Stück im Stück. «Ihr macht alle genau das, was ICH sage», verkündet der ad hoc Regisseur. Telemachos, der Sohn von Odysseus und Penelope, in Form eines Euphoniums wird vor einen Pflug mit Ochs und Esel gespannt. Tohuwabohu, und schon ist ein Teil der Sage von Odysseus erzählt.

Zwei Clowns erscheinen. Sie rollen einen Stein auf die Bühne. Ein fragender Blick ins Publikum – fragende Blicke zurück. Doch dann bemerken es die ersten: Like a Rolling Stone! Die Clowns gehen ab, die Schauspieler inszenieren den Bob-Dylan-Song, ein Lied über ein Lied. Oder etwas ganz anderes. Im nächsten Song werden die Schauspieler*innen Teil der Band, spielen Bass, Flöte, Geige oder Saxophon. Sie kreieren Loops, die sich überlagern, verschieben, wieder aufgehen – minimalistische Musik mit Groove und Präsenz.

Noch eine Geschichte. Spannungsvoll spricht ein Schauspieler von Schlagsahne, um im nächsten Moment das Mikrofon in geballter Faust hoch in die Luft zu halten und seinen Text laut ins Publikum zu brüllen. Hin und her, und dann laut ins Mikrofon.

Mitten im Stück fragt ein Schauspieler eine Zuschauerin: «Chömed Sie eigentli no drus?» Genau zum richtigen Zeitpunkt. Worum geht es? Was soll das überhaupt? Dieser Wirkung ist sich das Theater Hora bewusst, spielt damit, so dass es absurd wird. Gibt es etwas zu verstehen? Wenn ja, was? Und spielt das eine Rolle? Mal in Bann gezogen, mal amüsiert lachend, mal verdutzt und überfordert wird das Publikum zurückgelassen. Einblicke in etwas ganz anderes. In verschiedene Menschen, alle einzigartig.

Lass uns anders sein

Gehört das zum Stück? Ist das geplant? Schauspiel? Das wäre genial. Oder lebt das Stück genau durch die Szenen, die natürlich passieren, zu einem Ganzen zusammengesetzt, geplant ungeplant? Frei? Auch genial. Die vierte Wand zum Publikum existierte kaum, die bunte Truppe ist nah und unmittelbar. Die Schauspielenden spielen nicht ein Stück, sie sind Teil davon. Elan und Überzeugung, gepaart mit situationskomischen Momenten und einer Natürlichkeit, in der unklar ist, wo das Schauspiel aufhört und das Leben anfängt. Es ist eins. Dieser Magie von purem Leben kann sich keiner entziehen. Das Anderssein als etwas Positives, die Beeinträchtigungen führen zu neuen Ideen, sind keine Beeinträchtigungen mehr, sondern Chancen.

Und doch lebt das Stück nicht von den Beeinträchtigungen, sondern von den Menschen. In «Bob Dylans 115ter Traum» ist Platz für ihre Eigenschaften und Talente, das Stück lässt sie fliegen, trägt sie hinaus in die Welt. Beeinträchtigte Menschen, die nach wie vor am Rande der Gesellschaft leben, sind nun mittendrin, auch mitten im Publikum. Ungestuhlte Plätze für Menschen im Rollstuhl, ein Kommentar aus den Sitzreihen, wo normalerweise keiner gekommen wäre. Normalerweise wird das Theater wohl nicht von so verschiedenen Menschen besucht. Aber wie gesagt, an diesem Abend ist alles etwas anders.

Spiel: Noha Badir, Remo Beuggert, Gianni Blumer, Matthias Brücker, Cécile Creuzburg, Caitlin Friedly, Robin Gilly, Simone Gisler, Nikolai Gralak, Matthias Grandjean, Julia Häusermann, Sara Hess, Lucas Maurer, Serafin Michel, Nicole Neuenschwander, Tiziana Pagliaro, Fredi Senn, Simon Stuber, Fabienne Villiger

Musik: HORA'BAND; Regie: Michael Elber; Musikalische Leitung: Roland Strobel

Weitere Informationen unter www.hora.ch