Bildgewaltiges Ineinander von Natur und Fiktion

Luzern, 11.06. Der Auftakt der diesjährigen Luzerner Freilichtspiele ist auf ganzer Linie geglückt. Die Inszenierung von Beat Portmanns Mundartstücks «Wetterleuchten» durch den Regisseur Volker Hesse ging für das Publikum trocken über die Bühne – einzig die Schauspieler blieben nicht von Wasserkontakt verschont.

Wenn man sich über die genaue Bedeutung des Begriffs «Wetterleuchten» schlau machen will, spuckt eine bekannte Internetenzyklopädie folgende Definition aus: «Wetterleuchten bezeichnet den Widerschein von Blitzen, wenn man die Blitze selbst nicht sieht.» Bezieht man dies auf den Inhalt des neuen, extra für die Seebühne konzipierten Stückes, das «irgendwann in der Vergangenheit» spielen soll, könnte folgende Parallele gezogen werden: Ähnlich verhält es sich auch für viele der Bewohner des kleinen Fischerdorfes am Vierwaldstädtersee mit Geschehnissen aus der Vergangenheit. Über jene wissen die meisten von ihnen nämlich nicht genau Bescheid und auch dem Publikum werden sie nicht explizit als Vorgeschichte des Stückes vor Augen geführt, sondern sie schweben nur subtextartig im Raum herum. Allerdings kommt der Widerschein solcher Blitze in Form von alten Leichen allmählich für das Volk an die Oberfläche und fängt an Unruhe zu verbreiten, an dem Ordnungsgefüge von Unterdrückern und Unterdrückten zu wackeln. Auf den ersten Blick gestaltet sich die Exposition der Figuren in der Tragikkomödie des jungen Autors Beat Portmann in einer Konstellation, wie man sie in der Weltliteratur, etwa auch bei einem Gotthelf des Öfteren vorfindet. Da gibt es ein unschuldiges Mädchen, das an den reichen Grobian verheiratet werden soll, eine aufmüpfige Rotzgöre, einen scheinheiligen Pfarrer als verlängerten Arm der Obrigkeit, unflätige Trunkenbolde, den Narren, einen geheimnisvollen Fremden oder einen Bauern, der ein krankes Schaf zu teuer verkauft. Einen wirklichen Helden kennt der Plot jedoch nicht, vor einer Bestrafung der Schlechten und einer Belohnung der Guten hält sich die Inszenierung modern zurück.

Nachdem drei Söldner, die Militärdienst in der Fremde geleistet haben, mit dem Schiff ins Dorf zurückkehren, zeigt sich ihre Wiedereingliederung schwierig, die Wirkung auf die Dorfbewohner bleibt jedoch trotzdem nicht aus. Nach und nach fallen den Menschen die Schuppen von den Augen und sie erkennen in einem der Ankömmlinge, dem sprachlosen, sich nur in seltsamen Gesängen ausdrückenden Jack, den Sohn eines ertrunkenen, einstmals mächtigen Dorfmitgliedes. Ahnungen drängen sich auf, die gegenwärtig ansässige, befehlshaberische Familie – repräsentiert durch die jähzornige Margrit und deren Sohn Niklaus – könnte unrechtmässig im alleinigen Besitz der Geltungsansprüche auf See und Land sein. Der zum Unfall erklärte Ertrinkungstod des schon lange in Vergessenheit geratenen Gemeindemitglieds wird plötzlich in Frage gestellt. In typischer Tragödienmanier gefährdet der Verlust einer gesicherten Herrschaftsgrundlage die Stabilität innerhalb des gesellschaftlichen Hierarchiegefüges mit der Folge, dass Aufklärung und Mythos ineinander überschlagen. Die Aufführung des Stückes vor der Naturkulisse des Seeufers und des Alpenpanoramas trägt zusammen mit einer aufwändigen und kreativen Inszenierung zu einem sehenswerten Theaterspektakel bei. Die Handlung, die sich um den als Existenzgrundlage geschätzten und als Urgewalt gefürchteten See dreht, gewinnt durch den Spielort daher an Sprengkraft und Bildgewalt. Aber auch die Leistung der Darsteller hat an diesem Abend überzeugt. Besonders eindringlich wirkt die Umsetzung des geheimnisvollen Jack durch Enio Mendes Junior mit seinem starken, mystischen Gesang, sowie die Darbietung von Laia Sanmartin Gurado in der Darbietung eines geistig behinderten Jungen. Die Zusammensetzung von Laien- und Profischauspielern, schön platzierte Musikeinlangen, Klang- und Lichteffekte, sowie die liebevoll individuell gestalteten Kostüme verleihen der Idee jener Grossproduktion die nötige Authentizität.

«Wetterleuchten» ist noch bis zum 17. Juli auf der Seebühne zu sehen.