Bewegungsdaten sind ihr Kapital – doch dann legte die Pandemie die Welt still

Internationale Datenspezialist:innen tüfteln im historischen Schlössli Schönegg über Luzern an der smarten Mobilität. Die heutige Axon Vibe ging aus dem Verkauf der Vorgängerfirma Endoxon an Google hervor. Der umtriebige Firmenchef sagt, was er besser machen will als die grosse Konkurrenz aus den USA, warum die SBB als Kundin verloren gingen und wie der Corona-Schock der Firma zu neuem Elan verhalf.

Diese Geschichte handelt von …

… einem Schloss mit wilden Hausbesetzer:innenpartys in den 90ern, wo heute Tech-Nerds arbeiten.

… einer kleinen Luzerner Firma, die mit ihren digitalen Karten Google die Stirn bot – und schliesslich aufgekauft wurde.

… einem nicht mehr so kleinen Start-up, das an der vernetzten Mobilität forscht – und dem von einem Tag auf den anderen das Geschäft wegbricht.

Durch einen kühlen Felsgang mit Quellbrunnen gelangen wir in den Lift, der uns hoch zur Terrasse bringt. Den Ausblick zeigt Roman Oberli allen Besucher:innen zuerst, weil auch ein Digitalunternehmer weiss: Die Stadt, der See, die Berge sind das beste Verkaufsargument. «Damit kriegst du fast alles», witzelt der Chef von Axon Vibe. Für Kund:innen aus New York oder Japan sei der Gegensatz zwischen Jugendstil und Hightech besonders eindrücklich.
Das prominent gelegene Schlössli Schönegg unterhalb des Château Gütsch ist den meisten Luzerner:innen bekannt. Aber die wenigsten wissen, was darin passiert. Dass hier eine weltweit vernetzte Firma ein Geschäft aufbaut, das auf Daten und Algorithmen beruht. «Wir zeigen uns gern an lokalen Anlässen, kommunizieren jedoch relativ zurückhaltend, weil wir mit sehr heiklen Daten umgehen», sagt Roman Oberli. Aber verschwiegen wäre anders: Der gesprächige Unternehmer ist kaum zu stoppen, während er durch die Stockwerke und nüchternen Büros führt, wo Mitarbeiter:innen aus Bilbao, Malaysia oder Zürich hinter Laptops hocken.

Axon Vibe im Schlössli Schönegg in der Nähe des Chateau Gütsch Luzern Schweiz

Besetzer:innenpartys mit Aussicht
Um Axon Vibe zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück auf die Geschichte dieses Schlosses und der Vorgängerfirma. Das Belle-Époque-Haus mit Turm war in den Ursprüngen eine Trinkhalle, später mit dem Aufkommen des Tourismus ein Hotel. Es folgte eine wechselvolle Ära, die wild endete: Das Schloss wurde als Internat genutzt, als Unterkunft für Mönche und schliesslich für Asylsuchende. In den 90ern wurde es von Hausbesetzer:innen gekapert, die dort Partys und Konzerte veranstalteten. Seit 1998 ist das Gebäude im Besitz der Gebrüder Muff. Sie suchten für ihr stark wachsendes Unternehmen neue Räume und fanden diese im renovationsbedürftigen Schloss, das sie aufwendig sanierten.
Die Firma hiess Endoxon und zog mit digitalen Kartenanwendungen das Interesse von Google auf sich. 2006 wurde sie aufgekauft – nicht ganz freiwillig, aber zu einem guten Preis. Luzerner Technologie ist seither Teil von Google Maps, der meistgenutzten Karten-App der Welt. Gründer Stefan Muff rief nach dem Verkauf die Axon-Gruppe ins Leben und 2014 die Firma Axon Vibe. Zur Holding gehören weitere Firmen wie Klara, Axon Fintech, Axon Insight oder Axon Ivy. Im Fokus steht die digitale Transformation, sei es für Banken, Versicherungen, Behörden, Industrie oder Dienstleister:innen.
Muff ist als Vorsitzender noch heute aktiv dabei. Im Vorstand der Firma sitzt auch Uli Sigg – Investor, Ringier-Verwaltungsrat, Kunstsammler und ehemaliger Schweizer Botschafter in China. Es sei «wahnsinnig wichtig», Personen wie Stefan Muff oder Uli Sigg im Rücken zu haben, wenn es um Netzwerk, Strategie oder Taktik gehe, sagt Roman Oberli. «Sie haben sehr hehre Grundsätze und ein hohes Standing bei anderen Investoren.» Heute stehe nicht mehr ein schneller Verkauf im Vordergrund, Axon Vibe will den Grossen die Stirn bieten.
Die Gruppe zählt 700 Mitarbeiter:innen, gut 100 sind es alleine bei Axon Vibe. Die Software-Entwickler:innen und Datenspezialist:innen arbeiten neben Luzern in London, New York, Hongkong und Da Nang (Vietnam). Nicht gerade ein typisches Start-up, wenn man die Grösse und Geschichte der Firma betrachtet. Doch im Geiste herrscht hier durchaus Gründeratmosphäre, wie das Gespräch mit Roman Oberli zeigt.

«Die Zusammenarbeit mit den SBB war ein Vorzeigeprojekt, mit dem Axon Vibe in der Schweiz medial in Erscheinung trat.»

SBB legten Vorzeigeprojekt auf Eis
Die smarte und vernetzte Mobilität ist das Geschäftsfeld von Axon Vibe. Wenn wir heute mit dem ÖV reisen, planen wir unsere Stationen meist aktiv: Ich suche den richtigen Bus, damit ich den Anschlusszug erwische. Ich checke das Leihvelo in der Nähe, die Tramverbindung am Ankunftsort und mühe mich mit Tarifsystemen ab. Oder weiche entnervt aufs Taxi aus. «Wenn man sich nicht auskennt, ist es eine grosse Hürde, in den Nahverkehr einzusteigen», sagt Roman Oberli. Darum will er das Pendler:innenleben mit künstlicher Intelligenz erheblich vereinfachen.
Das Smartphone wird zur digitalen Reiseassistenz: Es kennt meinen Standort und zeigt mir die besten Wege. Es lernt mein Verhalten, meine Vorlieben und Bewegungsmuster kennen. Es reagiert auf kurzfristige Störungen oder Verspätungen und weiss auch über Rolltreppen und Lifte für Gehbehinderte Bescheid. Der Algorithmus liefert die Vorschläge, bevor ich überlegen muss.
Die Deutsche Bahn setzt auf Technologie von Axon Vibe, zudem Mobilitätsunternehmen in England, Tokio oder New York. Und die SBB ebenfalls bis vor Kurzem: Gemeinsam mit den Bundesbahnen hat Axon Vibe die neue Mobilitäts-App «SmartWay» entwickelt. Die Testversion war letztes Jahr bereits im App-Store erhältlich. Nun haben die SBB aufgrund der Pandemie ihre Prioritäten anders gesetzt und das Projekt auf Eis gelegt. Auf das Thema angesprochen, seufzt Roman Oberli: «Dass die App in der Corona-Situation pausiert, tut natürlich weh.» Die Zusammenarbeit mit den SBB war ein Vorzeigeprojekt, mit dem Axon Vibe in der Schweiz medial in Erscheinung trat. Trotzdem habe das Projekt bezüglich Know-how sehr viel gebracht, sagt Oberli. «Das Gelernte können wir in anderen Märkten einsetzen. Aber es ist uns nicht gelungen, das zuerst mustergültig in der Schweiz umzusetzen.»

Axon Vibe im Schlössli Schönegg in der Nähe des Chateau Gütsch Luzern Schweiz

Plötzlich stand die Welt still
Das kleinste Büro im Schloss gehört dem Chef, weil er die meiste Zeit unterwegs ist – oder, besser gesagt, war. Die Pandemie hat Oberlis Reisen abrupt beendet. Statt nach Tokio, London oder New York pendelt er zwischen seinem Wohnort Sarnen und Luzern. Und er hofft, dass es bei Online-Meetings statt physischen Treffen bleibt. «Auch unsere Kund:innen haben auf virtuelle Kommunikation umgestellt, Eisenbahnunternehmen in Japan waren in dieser Beziehung noch altbacken.» 
Die Pandemie war nicht nur für ihn persönlich, sondern für die ganze Firma einschneidend. «Wir verdienen daran, dass sich Menschen bewegen», sagt er. Das taten sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr. Die Mitarbeitenden seien frustriert zu Hause gehockt, sagt Oberli. «Unsicher, wie es mit Axon Vibe weitergeht.»

New York is calling 
Und dann kam die Anfrage aus New York. In der US-Metropole stand die U-Bahn in der Nacht wegen des Shutdowns erstmals in der Geschichte still. Wie sollten systemrelevante Arbeitskräfte nun in der Nacht zu ihrem Arbeitsplatz kommen? Axon Vibes App «Essential Connector» zeigte den New Yorker:innen alternative Wege zur Arbeit. «Könnt ihr in drei Tagen etwas auf die Beine stellen?», lautete die Anfrage. Und Axon Vibe stellte seine Agilität und sein Know-how unter Beweis. Der Auftrag unter Zeitdruck löste die lähmende Schockstarre und aktivierte das ganze Team von Vietnam bis New York. «Wie wir uns zusammenrauften – das war der beste Teamevent», sagt Oberli. Für Axon Vibe war der Auftrag Gold wert: «Wenn du es in New York schaffst, dann kannst du es überall.» Für die Metropolitan Transportation Authority (MTA) arbeitet Axon Vibe weiterhin am öffentlichen Verkehr der Zukunft.

Axon Vibe im Schlössli Schönegg in der Nähe des Chateau Gütsch Luzern Schweiz

Pendler:innen auf die Schiene bringen
Die Pandemie hat das Geschäftsfeld von Axon Vibe auf den Kopf gestellt. «Vorher ging es darum, die Kund:innen zu Spitzenzeiten umzulenken, heute müssen wir sie für den ÖV zurückgewinnen.» Axon Vibe will darüber hinaus das Wissen und die Konzepte aus der Mobilität für weitere Bereiche der Nachhaltigkeit nutzen. «Wir sehen riesige Chancen im Bereich der CO2-Senkung, indem wir das Verhalten der User:innen messen und ihnen Anreize in Form von Vergünstigungen geben», sagt Oberli. Das Projekt werde Anfang 2022 spruchreif sein. «Wir können mit unseren Ideen neue Lösungen bieten und wollen in verschiedenen Regionen eine Vorreiterrolle einnehmen.» Oberli ist überzeugt, dass mit Anreizen und Belohnungen schneller eine Veränderung möglich ist als mit Gesetzen und neuen Kosten.
Das grosse Ziel sei, den Verkehr von der Strasse auf die Schiene umzulenken: «Mit einer aktiven Kund:innenstromlenkung wollen wir zeigen, dass der ÖV eine effiziente Option gegenüber dem Auto ist», sagt Oberli. Dazu muss er Pendler:innen aus ihren gewohnten Mustern reissen. Ein Beispiel: Der Algorithmus rechnet bei der Fahrzeit des Autos die Suche nach dem Parkplatz dazu. Und so wird aus dem Datenschatz Psychologie.

«Der Algorithmus rechnet bei der Fahrzeit des Autos die Suche nach dem Parkplatz dazu. Und so wird aus dem Datenschatz Psychologie.»

Die Sache mit dem Datenschutz
Bei Geschäften mit Standortdaten schrillen die Alarmglocken. Der politische Druck auf Google, Facebook oder Apple steigt wegen deren Grösse und Datenmacht. Es sei eine Grundfrage, ob eine private Firma so viel über mich wissen dürfe, erklärt Oberli. «Im Gegensatz zu Google oder Uber liegen unsere sensiblen Informationen näher beim Staat, weil wir mit ÖV-Unternehmen und Städteplaner:innen zusammenarbeiten.» Zudem unterliegt Axon Vibe den strengeren europäischen Richtlinien. Und man attestiere einer Schweizer Firma allgemein mehr Verständnis für Datenschutz, Qualität und Neutralität, so Oberli. «Diese Klischees funktionieren noch heute.» 
Kann ich darauf vertrauen, dass Axon Vibe keine sensiblen Daten von mir weitergibt? Roman Oberli kennt die Gefahren: «Wir wissen so viel von den Leuten und könnten dadurch subtil Einfluss nehmen.» Ein gelebter Datenschutz im Sinne der Endkund:innen sei deshalb ein zentrales Thema: «Wir leisten viel mehr, als wir von Gesetzes wegen müssten.» Etwa indem Nutzer:innen den Verwendungszweck ihrer Daten bis ins Detail kontrollieren. Roman Oberli nimmt deshalb auch Anwender:innen in die Pflicht, doch: «Die grosse Problematik ist: Die User:innen interessiert es nicht.»

Axon Vibe im Schlössli Schönegg in der Nähe des Chateau Gütsch Luzern Schweiz

Text: Jonas Wydler
Foto: Wanja Manzardo

Dieser Beitrag erschien in der Novemberausgabe 11/2021 von 041 – Das Kulturmagazin.

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