In Between Things

Hilfiker Projekte, Luzern, 21.10.2020: Tatjana Erpen erzählt «Mikrogeschichten» der Dinge und lädt uns ein, die Perspektive der Objekte einzunehmen. Die Ausstellung «Condition Report» ist ein Protokoll der Zustandsveränderungen – von Gegenständen und von ihr selbst.

Bild: zVg

Die Dinge haben sich verändert. Im kleinen White Cube in der Museggstrasse begegne ich der maskierten Luzerner Künstlerin Tatjana Erpen (*1980). Da nur wenige die Vernissage mit Schutzkonzept und ohne Apéro besuchen, kommen wir bald ins Gespräch.

Nächstes Jahr sei eine Ausstellung geplant gewesen mit (Zusammen-)Arbeiten aus Tansania. Doch wie bei so vielem kam es anders. Sie befände sich nun in einem Zustand des Übergangs. Weg von den Siebdrucken, die für ihre bisherigen Arbeiten zentral waren, hin zu anderem.

Zu was, sei aber noch nicht eindeutig klar. Im Zwischenraum des Zweifels überreicht sie uns mit dieser Ausstellung ihr Protokoll der Zustandsveränderungen. Was bleibt, ist die Auseinandersetzung mit der Fotografie und eine objektorientierte Kunst.

No thing left to lose

Das Zuhausebleiben bedeutete auch ein Zurückgeworfensein auf sich selbst. Und auf die nächste Umgebung. In Erpens Fall auf das Gelbe Haus und das Atelier im Sedel. So stammen die drei gestapelten Taburettli, die sich auf dem Bildschirm bewegen, aus ihrem Haushalt.

«Variation», 2020 ist eine Stop-Motion aus digital bearbeiteten Fotografien. In zufälligem Rhythmus werden vor schwarzem Hintergrund alle Kombinationen von Positionen und Perspektiven der Taburettli durchgespielt. Eine Anspielung auf die alltäglichen wie unmerklichen Verschiebungen von Gebrauchsgegenständen, die aber auch an Mani Matters Lied «Dr Hansjakobli u ds Babettli» mit ihrer Metapher von oben und unten erinnert.

Dies wiederum verweist auf Erpens frühere Projektions-Arbeit «Construction for a first world perspective», 2019. Sie arbeite schon länger mit Projektionen, meint sie, doch konnte sie sich die ständige Arbeit am Computer bisher nicht recht vorstellen. Am Siebdruck gefiele ihr nämlich die Handwerksarbeit und die haptische Materialität konkreter Objekte, die Reibungsfläche zwischen Händen und Dingen.

Tatjana Erpen, Hilfiker Kunstrpojekte
Tatjana Erpen, Variation, 2020, (Videostill)

Analoger und materieller geht es in «Kaninchen (Oberseite, Unterseite)», 2016 zu und her. Mit ihrem toten Blick starrt uns ein Hasenkaninchen als direkte Tonerkopie auf Papier entgegen. Es war ihr eigenes. Schon als Kinder hätten sie ihre toten Haustiere auf das Kopiergerät gelegt und fotokopiert.

Dieses makabre Spiel zeugt vom kindlichen Wunsch, das Vergehen festhalten zu wollen, einen unwiederbringlichen Verlust rückgängig zu machen, der auch in der Kunst und in der Fotografie mitschwingt. Das Emotionale vermischt sich mit dem Dokumentarischen. Warum nicht auch Totenfotografien von Tieren machen? Ein Festhalten des Zustandes, wenn das nunmehr tote Objekt noch wie ein lebendiges Subjekt wirkt, vor dem Zerfall des Körpers, dem eindeutigen Zustand des Kadavers. Absolut passiv geworden, kann es frei und gewaltlos manipuliert werden.

 

Doch gehen wir nicht schon mit lebendigen Tieren so um? Das Kopieren verweist auch die Reproduktion, die Vermehrung in Natur oder Zucht, wo nur die Gattung oder die verwertbare Masse zählt, aber nicht das Individuum als solches.

Zu Individuen werden «Mannshohe Grashalme I und II», 2020, die kopfüber hängen. Wie bei Baselitz verkehrten Portraits oder passender noch wie bei Duchamps umgekehrten «Flaschentrockner» aus dem Jahr 1914. Denn auch bei Erpen handelt es sich um ein objet trouvé, einem gefundenen Gegenstand. Ebenso bei «Thrown back», 2020, eine alte Perl-Leinwand für Super-8-Filme, die eine brillierende Schicht besitzt. Es hätte etwas projiziert werden sollen, doch wäre der Raum zu voll geworden, sagt Tatjana Erpen.

Die leere Leinwand erinnert so an Klassiker der abstrakten Malerei, eine Mischung aus Rothko und Malewitsch. Oder an Konzeptkunst. Durch die Leere gerät das Medium als Objekt in den Blick, aber auch die Materialität des zurückgeworfenen Lichts, das scheinbar keine Spuren hinterlässt.

Doch bei manch eine*r ruft schon nur der Anblick Reminiszenzen innere Filme hervor. Wieviele Filme hat diese Leinwand wohl bereits gesehen? Steht nicht alles in einer Art Projektionsverhältnis zueinander, so dass alles, auch wir, Medien sind – projizierendes Subjekt und projiziertes Objekt?

The Parliament of Things

Tatjana Erpens Kunst arbeitet mit der Geste radikaler Einfachheit. Mit scheinbar naiver Subjektivität birgt sie die Objekte und lässt sie als solche erscheinen. So wie die Objektkunst – etwa Duchamps Readymades oder Dadas Assemblages – vor ihr.

Doch will sie damit nicht mehr die Institutionen der Kunst kritisieren, sondern die «Mikrogeschichten» der Dinge erzählen. Sie lädt uns ein, die Perspektiven der Objekte einzunehmen. Radikal demokratisch stehen Menschen, Objekte, Relationen und Praktiken egalitär nebeneinander.

Gleichzeitig ist die Beziehungsweise eine intime. Persönliche Begegnungen mit Gegenständen, seien sie noch so klein und unscheinbar, mit denen sie Gespräche führt und deren Geschichten sie lauscht.

Dies mag manchen als oberflächlich erscheinen, als Bilder, die «keine tiefergehenden Kratzer in der Retina zurück» lassen. Folgt man jedoch ihrer Einladung zum Perspektivenwechsel, ermöglicht die Künstlerin unsere Beziehung zu den Gegenständen und damit auch zur Welt zu hinterfragen.

Gerade indem sie im Innenraum der Dinge bleibt und nicht nach Aussen – dem Absoluten, Transzendenten und Totalen – strebt. Der alltägliche und gewöhnliche Gebrauch der Dinge verweist auf die Kontingenz – das Zufällige und Nicht-Notwendige – und damit auf die Grundlosigkeit der Welt. Nichts bleibt, wie es ist. Genaus das Zugefallene und Verfallene, Entgegengeworfene und Verworfene ist ihr Material.

Tatjana Erpen zeigt eine «Welt von Hinterlassenem», «die Geschichte in sich tragen». Eine Welt, die auch noch bestehen bleiben wird, wenn wir nicht mehr da sein werden. Eine Welt ohne uns. Mit Hinterlassenschaften, die nicht mehr die unseren sein werden. Und vielleicht nie die unseren gewesen sind.

Condition Report
Bis 28. November
Hilfiker Kunstprojekte, Luzern