Angenehm unangenehm

St.-Karli-Schulhaus, Luzern, 13.09.2018: Fetter Vetter & Oma Hommage und das Theater Aeternam tun sich zusammen und eröffnen ein Menschenmuseum. Mitten im St.-Karli-Schulhaus. Zwischen Schulbänken, Kindertischen und Kreidetafeln. Im Keller, im Dachstock und im WC. «Die grosse Menschenschau» ist intensiv, verstörend und unterhaltsam – ein Erlebnis.

 

(Titelbild: Damiàn Dlaboha)

Grässlich-gute Plakate zierten in den letzten Monaten VBL-Busse, Badeanstalten, Plakatsäulen. Stoisch guckende freie Theaterschaffende, die zum bald stattfindenden Selbstexhibitionismus aufriefen: «Hereinspaziert, es ist Menschenschau! Kommen Sie, getrauen Sie sich, seien Sie kein Feigling!» Völkerschauen gab es zwischen 1870 und 1940 in Europa tatsächlich und zuhauf. Menschen aus Afrika, Indien oder Südamerika, die rohes Fleisch assen und Kriegstänze vorführten, damit sie das Klischee ihrer weissen Zurschausteller erfüllten. «Die grosse Menschenschau» hingegen zeigt Menschen aus aller Welt. Fremde Kulturen waren gestern. Heute sind wir uns selber fremd geworden.

Menschenschau
Werbung für die Menschenschau. Bild: Marco Sieber

Ich poste, Mir gefällt, Mein Kanal. Aber wer bin ich eigentlich? Von dieser blinden Massenindividualisierung profitieren die Mächtigen und Zwielichtigen am meisten. Hu Tao etwa, Chefin einer Firma, die ein Pilotprojekt des 2020 in China obligatorisch werdenden Sozialkreditsystems durchführt. Sammle Punkte, wenn Du die Rechnung rechtzeitig bezahlst. Verliere Punkte, wenn du Pornographie konsumierst. Vertrauen durch Zwang, Überwachung durch Vereinzelung. Teile und Herrsche. Christoph Künzler trägt an der Premiere einen fiktiven Monolog von Hu Tao derart authentisch vor, dass sich seine Rolle verflüchtigt. Im Hintergrund läuft ein nervöser Jazz-Standard in Hi-Fi-Radioqualität, Lichtgestaltung: Chiaroscuro-Style. «Die grosse Menschenschau» wird zu Filmtheater, Immersion = 100 Prozent.

Vom obersten Stock in den Keller. Unheimlich-diffuse Klänge, rötliches Licht. Salita krümmt sich in einer Ecke. Sie erzählt uns von ihrem 1-Dollar-in-der-Stunde-«Job» bei Google. Als Content Managerin löscht sie inappropriate content, das richtige schlimme Zeug. Blut wird gelöscht, Terrorattacken nicht immer. Abtreibungen meistens. Salita hat alles gesehen. Damit wir es nicht sehen müssen. Und schön brav unsere Daten liefern. Google beutet Konsument beutet Content Managerin beutet sich selbst aus. Salitas Kopf: Eine grauenerregend-glibbrige Maske mit seltsamen Geschwülsten am Nacken und zwei pechschwarzen, winzigen Gucklöchern. Es ist ihre Seele, nach aussen gekehrt. Die fiktive Salita wird heute von Christoph Fellmann gespielt, mit subtilen weiblichen Bewegungen und ruhiger Stimme zum bösen Spiel.

David Inauen Musik
David Inauen am Synthesizer. Mal düstere, mal heitere Akkorde flüstern durch das St.-Karli-Schulhaus. Bild: hei

Fellmann zeichnete auch für die Monologe verantwortlich, die von den Figuren vorgetragen werden. Der ehemalige Tages-Anzeiger-Journalist hat tief im Feuilleton der letzten Monate und Jahre gewühlt, investigative Recherchestories und skurrile wie gesellschaftlich brisante Reportagen zu einem stimmigen Amalgam aus Hollywood-Horror, Pop, Kitsch und Gesellschaftskritik verdichtet. David Lynch würde sich eine Zigarette anzünden.

Ein IS-Kämpfer mit Ork-Kopf (fabelhaft apathisch: Annabelle Sersch) flüstert im verdüsterten Kinderzimmer des St.-Karli-Schulhauses, wo morgen um 9 Uhr kleine Knöpfe hocken werden: «Wir haben den Traum von einer Welt, in der alle gleich sind. Ihr habt den Albtraum von einer Welt, in der alle einzigartig sind. Ihr nennt unseren Terror Blutrausch, wir nennen ihn Punk.» Die Vorzeichen kehren sich im Grab um, die IS-Sympathie bleibt einem im Magen stecken. «Die grosse Menschenschau» – ein zynischer, pessimistischer und hintersinniger Blick auf den Homo Sapiens des 21. Jahrhunderts: Die grosse Menschensau.

Die Menschenschau ist ein frei begehbares Theater mit zehn Szenen / Ausstellungsräumen. Die Schau öffnet um 20 Uhr und schliesst um 23 Uhr (an Sonntagen um 14 bzw. 17 Uhr). Im Halbstundentakt beginnen die Exponate zu sprechen und stellen sich vor.
Nächste Termine: FR 14., SA 15. und SO 16. September, DO 18. Oktober, DO 8. November, DO 8. Dezember. Weitere Termine und alle Informationen unter www.menschenschau.ch