Alles andere als «nur» schön

Kulturhof Hinter Musegg, Luzern, 04.09.2020: Mit dem kryptischen Titel «s'» versehen, performte das Stimmenquartett famm unter der Regie von Sylvie Kohler sein neues Stück: ein Liederprogramm über s’Babeli, s’Liseli und andere starke Frauen, gesungen und präsentiert mit bewussten und unbewussten Statements.

Bilder: Ingo Höhn

Schön. Äfach schön. Schono schön. So schön! Schön, schön, schön, schön. Schön ist sozusagen das Schweizer Wort des Jahrhunderts. Wie die Ferien waren? Schön! Der Abend? Schön! Das Treffen mit einer alten Freundin? Schön. Und die Musik? Schön! Schön wird in der Schweiz inzwischen derart inflationär genutzt, dass die Verwendung des Wortes kaum mehr einzuordnen ist. Was also in kurzer Zeit schnell, einfach und möglichst positiv eingeordnet werden muss, wird mit dem Stempel «schön» versehen. Noch nicht einmal böse gemeint, weil wer etwas als «schön» betitelt, empfindet das Erlebte als eine beispielsweise wohlige, angenehme, ansprechende, inspirierende, bewegende, berührende, sinnige Erfahrung. Der gehäufte Gebrauch des Wortes «Schön» ist also oberflächlich und tiefsinnig zugleich, aber auch ungewollt desensibilisiert – adieu Wortvielfalt, adieu Auseinandersetzung, adieu Kritik.

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famm – v.l.n.r. Sabrina Troxler, Sarah Höltschi, Claudia Greber, Simone Felber

Wer sich mit altem Schweizer Volks(musik)gut beschäftigt, wird in etwa auf ein ähnliches Idyll stossen. Die Geschichten sind in ihrer Thematik zwar durchaus mal düster oder mehrdeutig, musikalisch werden sie aber des Öfteren als lieblich oder: als schön verkauft. Das Stimmenquartett famm hat sich dieser Thematik in seinem neuem Stück «s'» angenommen. Im «Liederprogramm über s’Babeli, s’Liseli und andere starke Frauen» lässt es Frauen aus alten Volksliedern auf Frauen der Gegenwart treffen. Was haben sie alle gemeinsam? Wo gibt es Unterschiede? Und welche Erwartungen hat die Gesellschaft an Frauen? Solche und viele Fragen verfolgten famm während rund einem Jahr für ihr Programm. Neben der musikalischen Bearbeitung der Lieder rund ums Thema haben die vier Sängerinnen Claudia Greber, Sarah Höltschi, Simone Felber sowie Sabrina Troxler gemeinsam mit der Theaterpädagogin Sylvie Kohler weitere performative Formen recherchiert, um die Inhalte der Texte über die Musik hinaus zu beleuchten. Als Austragungsort für die Premiere diente der Kulturhof Hinter Musegg. Nicht nur «schön» ist's dort, sondern auch inspirierend, ein Ort voller Gegensätze, der sein Spagatsammelsurium mehr als nur meistert. 

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Maskiert (C-c-c-cooo-Corona!) ging's zur Hofbühne, welche kurz vor dem offiziell angegebenen Startpunkt des Events von den vier Performer*innen betreten wurde. Dort niedergesessen, wurden summend und singend Papierflieger gefaltet und an eine Wäscheleine geklammert. Politische Anspielungen auf Kampfjetinitiative oder Vaterschaftsurlaub, wie im Publikum getuschelt wurde? Unbeabsichtigt. Kaum waren alle Flieger aufgehängt, stimmten famm das erste Stück an: «Anneli, wo bisch gester gsi?» Dem vergleichsweise bekannten Ostschweizer Lied folgten anschliessend Stücke, wie «Wenns Baabeli wott go bronze» oder «D‘Chiäjeri» (übrigens auch zu finden auf dem Album «Honig im Tee» der Oltener Jazzsängerin Elian Zeitel, welche dieses am gleichen Abend getauft hat). Unterbrochen wurde die Musik dabei einerseits von Fakten sowie Fragen:

«Bin ich ein schlechtes Mami, wenn ich 80 Prozent auswärts arbeite?»

«Frauen sterben bei Unfällen häufiger, weil Autos auf Männer ausgerichtet sind.»

«Frauen haben im Durchschnitt 2,3 Mal länger auf dem WC als Männer»

«Gibt es auch Powermänner?» 

Ergänzt andererseits durch szenische Einlagen, wenn beispielsweise eine Performerin die Schuhe auszog und von der Bühne stürmte oder alle vier Musiker*innen mit einer Büste interagierten, jene beispielsweise auseinanderschraubten oder gestenhaft stylten.

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Diese unkommentierten Gedankenanstösse hatten zwei Funktionen: Sie leisteten auf eine einfache, klare Art Sensibilisierungsarbeit und verliehen dem Stück zugleich eine interdisziplinäre Note, wodurch es sich wegbewegte vom reinen Konzert oder Theater. Die eingangs angesprochene Zusammenarbeit mit Kohler hat sich gelohnt: So blieb immer spannend, was denn nun als nächstes folgen würde und der Flow ging nicht verloren. Es gab keine Ansagen oder ähnliches – die Stücke flossen ineinander, wobei im oralen Orbit die Vokalkunst stets präsent blieb. Denn hier sind famm in ihrem Element: Wenn die vier ausgebildeten Sängerinnen die Grenzen der Stimme ausloten, jodelnd, singend, beatboxend, löst das Staunen und Gänsehaut aus. Aus Silben werden Rhythmen gebildet, manchmal schon fast dadaistisch anmutend, dann folgen herrliche Harmoniegebilde, ein- bis vierstimmig, perfekt abgestimmt und oft auch mit Dissonanzen versehen respektive geladen mit Spannungstönen. Wow! 

«So schön», hörte mensch denn im Anschluss an die mit viel Applaus verdankte Show im Publikum. Aber nein, diese Aufführung war nicht schön – das täte sie viel zu oberflächlich ab. Dieses Stück war gerade  in Anbetracht der aktuellen Pandemie- und der immerwährenden Gesellschaftssituation beeindruckend, war aufrüttelnd, und es war lustig, bis das Lachen im Hals steckenblieb. Ein spannend und intelligent gemachtes Liederprogramm, stark performt von vier tollen Musiker*innen, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass diese in ein maskiertes Gesichtermeer blicken mussten und umso mehr mit ihrer Mimik, ihrer Gestik und ihrer Kunst Funken sprühen liessen. Kurzum: ein Abend, ein Statement. 

famm: s'
FR 18. September
Somehuus, Sursee

Spiel: Claudia Greber, Sarah Höltschi, Simone Felber, Sabrina Troxler

Regie: Sylvie Kohler; Kleidung: Medea Karnowski; Grafik: Nicole Brugger