40 Ohren für Russland

Theater Pavillon, 12.12.2013: Für sein gestriges Konzert im Theater Pavillon hat sich das Mondrian Ensemble Basel um die Luzernerin Daniela Müller auf Spurensuche begeben und so das Programm „russische Avantgarde II“ geschaffen. Darin stellt es ein Abbild der russischen Musikszene um 1914 zusammen und versucht dann, die abgebrochene Linie weiterzuführen.

Fin de siècle in Europa: Der Jugendstil ist zum langweiligen Mainstream geworden, jedermann sitzt in verschnörkelten Salons herum, die Damen tragen pastellrosa Rüschen, man trinkt Tee aus scheusslich verziertem goldenen Porzellan, liest ergreifende Mantel-und-Degen-Romane und hört Salonmusik und Operetten. In der kreativen Szene regt sich Widerstand, die Jugend schafft explosive neue Kunstwerke in Malerei, Literatur und Musik, man nennt es später Dadaismus, Expressionismus, Futurismus. Die Bewegung ist schöpferisch und bestens vernetzt, erlebt aber durch den ersten Weltkrieg eine tragische Zäsur. Viele Künstler sterben. Andere werden schwer verwundet, ohnehin war die Bewegung nach dem Krieg nicht mehr dieselbe. Wer hat sich nicht schon gefragt, wie es weitergegangen wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre? Was wäre anders gewesen, hätten die oft jugendlichen Künstler länger gelebt? Wo hätte die neue, überbordende Energie hingeführt? Bei den wenigen Künstlern, die überlebt haben, verliert sich die Spur, viele emigrierten oder orientierten sich radikal um. Nicht wenige von ihnen wurden später in Europa einfach vergessen. Für sein gestriges Konzert im Theater Pavillon hat sich das Mondrian Ensemble Basel um die Luzernerin Daniela Müller auf Spurensuche begeben und so das Programm „russische Avantgarde II“ geschaffen. Darin stellt es ein Abbild der russischen Musikszene um 1914 zusammen und versucht dann, die abgebrochene Linie weiterzuführen. Dazu hat das Enbsemble Stücke ausgegraben, die längst auf keinem Konzertprogramm mehr zu finden sind und Komponisten aufgeführt, deren Namen vergessen waren. Der Aufbruch, der 1914 durch die Musikszene ging, die aufkeimende Atonalität, kennen wir von Alexander Skrjabin, der als einziger bekannter Name auf dem Programm stand; die Mondrian-PianistinTamriko Kordzaia interpretierte seine Klavierpreludes op. 74, ein Jahr vor Skrjabins Tod komponiert. Ergänzt wurde der erste Konzertteil von einem Streichtrio („Zwölftondauermusik“ des unbekannten Srkjabin-Zeitgenossen Jefim Golyscheff) und von „Des Lebens Frühling“ von Sergei Protopopov (ebenfalls ein vergessener Zeitgenosse) für Mezzosopran (als Gast: Kazuko Nakano) und Streichtrio. Der wie aus einem Guss wirkende Streicherklang lässt jahrelanges Zusammenspiel sowie viele und sehr genaue Proben erahnen. Auch Tamriko Kordzaja überzeugte sehr, obwohl der erste Konzertteil mit der grellen Beleuchtung eher wie auf einer Probebühne wirkte. (Offensichtlich hat das Mondrian-Ensemble zum ersten Mal im Theater-Pavillon gespielt, dessen freundliche Atmosphäre sich zu einer vielgenutzten Alternative zum schönen, aber für freie Veranstalter völlig überteuerten Marianischen Saal entwickelt hat.) Im zweiten Teil des Konzertes (nun mit adäquater Konzertbeleuchtung), machte sich das Ensemble daran, den Faden weiterzuspinnen. Zuerst ging es zurück ins revolutionäre Moskau: „Des Lebens Frühling“, 1915 von Arthur Lourié komponiert, einem der ersten, jedoch vergessenen,Vertreter des musikalischen Futurismus. Später wurde Lourié als Musikbeauftragter in das Bolschewistische „Institut für Aufklärung“ berufen, setzte sich dann aber nach Berlin ab, lebte in Paris und wurde nach seiner Emigration in die USA in Europa völlig vergessen. Alexander Mossolov, der Komponist der darauf folgenden zwei Nocturnes für Klavier, ist ebenfalls ein vergessener Komponist, allerdings der folgenden Künstlergeneration. Er kämpfte als Jugendlicher in der Roten Armee, bevor er überhaupt seine musiklaischen Studien begann. Wie Tamriko Kordzaia seine zwei Nocturnes (1926 komponiert) aufführte, gehörte zu den besten Momenten des Abends. Schlusspunkt dieser kleinen Zeitreise nach Russland bildete Nikolai Roslawez' Klaviertrio Nr.3 (1921), in dem das Mondrian Ensemble (mit Gast David Pia am Cello) noch einmal mit seinerm genauen und differenzierten Spiel und seinem unglaublich einheitlichen Klang bezauberte. Die Nacht war kalt und die Gesundheit angeschlagen, entsprechend gross war die Versuchung, nicht hinzugehen. Was hätte man da verpasst! Danke den MusikerInnen für diesen Abend, der selbst programmiert und selbst organisiert (also in keine feste Konzertreihe eigebettet) war – im Wissen darum, was das an Mehraufwand bedeutet. Publikum: keine zwanzig Nasen, aber vierzig höchst aufmerksame und glückliche Ohren. Wo waren die anderen alle? Lagen sie in ihren Salons auf überdimensionierten Lounge-Sofas, assen Süsses aus goldenen, scheusslich verzierten Tüten und schauten den Bachelor? But that's another Story.