15 Sekunden rezensieren

Weinmarkt Luzern, 18.08.2018: Winterthur-Bern-Münsingen-St. Gallen-Basel-Luzern. Die Tournee der Strassenkunst-Truppe «Compagnie Trottvoir» endet wieder in den hiesigen Gefilden. Eine Herausforderung wäre, das Stück «15 Sekunden» mit einer 15-Punkte-Liste zu rezensieren. Das Wesentliche ist aber mit fünf gesagt.

Lesezeit: 15 Sekunden, vielleicht?

Erstens: Objekt des Anstosses. Wie schon letztes Jahr schaffte es die Compagnie wieder, einen Gegenstand, hier besser: eine Maschine, zu schaffen, die sowohl bedeutungsschwanger als auch reich an Bespielungsoptionen den Anker, das Epizentrum des Stücks bildet. Ein bühnenartig erhöhtes Laufband mit einer Umdrehungshalbzeit (interessieren tut nur die obere Hälfte) von 15 Sekunden, vielleicht? Hinzu kommen einige bewegbare und bewegende Requisiten und eine kleine Plattform am Ende des Bands: Müllhalde und Orchestergraben.

Zweitens: Der Kontext bedeutet. Ich habe das Stück auch auf dem Berner Münsterplatz gesehen. Dort stand das Laufband mittig vor dem Hauptportal. Wenn die Artistinnen* in den Himmel blickten und man ihrem Blick folgte, strebte man unweigerlich dem gotischen Vektor entlang und ergötzte sich an der Architektur. Das Laufband war waagrecht, es stand für kosmische Prinzipien: Gerade Linie von A nach B, Leben von Geburt zu Tod. Auf dem Luzerner Weinmarkt war das Laufband entlang der Pflastersteinschräge gesetzt. Schiefe Bahn oder Aufstieg: je nach Richtung. Im Hintergrund die bunten Schaufenster und der Schriftartenmix der Altstadtläden. Oben das Wolkenquadrat des Innenhofs. Das waren zwei verschiedene Geschichten.

Drittens: Verkörpertes Gedicht. Ein Laufband von konstanter Geschwindigkeit ist wie ein gleichbleibender Versfuss. Man kann da ganz Verschiedenes reinpacken und doch eine eiserne Einheit bewahren. Die einzelnen Verse (Laufbanddrehungen) haben ihre Grenzen und inneren Zwänge. Besonders schön, wenn es dann Enjambements gibt, wo der Schluss der einen Nummer (Holzpflock zersägen) der Anfang der nächsten ist (Späne wischen). Wenn das letzte Wort der Zeile («Rückzugsmöglichkeiten schaffen») der Rückzug der Sprache ist (die Artistin springt vom Laufbandende). Die sich wiederholenden Figuren des Schauspiels, der Akrobatik, der Geschichten mit Gegenständen widerspiegeln sich in den anapherlastigen Gedichten, die das Treiben auf der Bühne begleiten. Während die Spielleute uniform gekleidet waren, unterschieden sie sich anhand der Farben ihrer Nike Sneakers – eine Art freier Fuss bleibt.

Viertens: Hypnotische Komposition. Zuerst nur helle Klötze, die übers Laufband fahren. Eintönig, langatmig. Das Ensemble setzt sich hinter das Band, blickt das Publikum an, folgt den Klötzen, schaut in den Himmel, alles still, behutsam. Dann taucht einer mit Ukulele aus dem Untergrund der Bühne, monotones Zupfen, wird geloopt. Jetzt beginnen sie mit Challenges unter dem Zeitdruck des Bandes: Schaffen sie es, ein ganzes Glas zu trinken, einen Apfel zu schälen, einen Ballon aufzublasen? Der Gitarrenloop intensiviert sich mit zusätzlichen tieferen Saiten. Das Publikum wacht auf, wird angespannt. Nächste Strophe: Eine Kickdrum schlägt pausenlos. Am Laufbandrand wird selfpromoted, gewählt, entsorgt. Nächste Strophe: Die Bassdrum wird heftiger, Synthie und Snare kommen stückweise hinzu. Auf dem Laufband progressive Motive: Wie lange kann er da hochbalancieren auf den immer zahlreicher gestapelten Klötzen, bis die Kette kollabiert? Schnitt. Erste Beruhigung.

Einer probiert, in der Luft eine Hose anzuziehen, während die Übrigen sich gemütlich auf die Vorderkante setzen. Es werden lustige, persönliche Alltagsgeschichten in Mundart erzählt. Verletzlichkeit, Unzulänglichkeiten. Eine feinfühlige Phase der Empathie. Ihre Sitzreihe wandert gemächlich der Linie entlang. Nächste Strophe: Akkorde und Kastagnetten, erste behutsame Choreographien zwischen Akrobatik und Körperperformance. Intermezzo mit einem konjunktivischen Gedicht. Dann Steigerung der vorherigen Strophe: Wiedereinstieg des monotonen Beats, dazu Saitengezupfe. Nun die halsbrecherischen akrobatischen Figuren und eine rennende Meute. Angst wächst in die Augen der Darstellenden, es wird chaotisch, man beginnt sich dreinzureden. Schnitt. Zweite Beruhigung. Die Gejagten setzten sich wieder hinters Band wie zu Beginn, der Barde besingt das vom gerade Erlebten aufgewühlte Publikum mit sanften Tönen. Was für ein Ritt, was für eine liebevolle Landung. Eine nach dem andern steigt hinunter in die Unterwelt, dorthin wo zu Beginn die Klötze und ein Ei herkamen, das in der Challenge-Phase zu einer Speise verarbeitet wurde. Nun ein letzter Gegenstand, der auftaucht: Ein goldenes Ei. Fünfzehn Sekunden – und es zerspringt.

Fünftens: Der offene Schluss. Nach den ersten Wellen des Applauses nochmals ein Lied, das vom Stück ins Hierjetzt der Aufführung überführt, zur Kollekte, zum Heimgehen, zum Grüssen und zu Gesprächen. Auf dem Berner Münsterplatz wagten sich nun einige Leute aus dem Publikum aufs Laufband. Heute ist es anders: Niemand kam, aber die Spielenden selbst testeten aus, wie oft sie nochmals eine Reaktion hervorrufen können mit dem Raufsteigen, manche entledigten sich ihrer Schuhe, tranken Wasser. Improvisierende Verwischungen von Grenzen in der Nahbarkeit des Strassenspiels. Das.

Mehr Informationen: http://www.trottvoir.ch/