Gleichzeitiges Ungleichsein

Altes Turbinenversuchshaus, Kriens, 23.09.2018: «Twins not Twins are same same but different», könnte man meinen. «Twins not Twins» sind die Kunstschaffende Claudia Bucher und die Tänzerin Beatrice Im Obersteg. Zusammen untersuchen sie Bewegungen in den unterschiedlichsten Räumen. Am frühen Sonntagabend luden sie zu ihrer dritten Performance-Kollaboration ein.

Der Klang von fröhlichem Geplauder und ein Plakat an der Türe locken zum Eintreten in das kleine, unscheinbare Häuschen auf dem Areal der ehemaligen Bell Maschinenfabrik, das heute als Theaterbeleuchtungslager von «Fish&Light» genutzt wird. Die Atmosphäre ist familiär und sehr ausgelassenen. Zwischen Bühnenscheinwerfern, aufgerollten Kabeln und allerhand Technikschnickschnack steht eine kleine Gruppe von neugierig umherblickenden Menschen, die alle gespannt auf die Öffnung der von weissen Tüchern verhängten Türen im hinteren Teil des Raumes warten. Dann ist es soweit, die Türen schwingen auf und die Besucher*innen werden in einen zweiten Lagerraum geführt. In der Mitte dieses Raumes hängt ein weisses Plastiktuch an einem mit Stahlseilen befestigten Metallhaken von der hohen Decke herunter. Die Spannung steigt, die Blicke richten sich erwartungsvoll auf das Plastikgebilde. Eine Damenstimme in der hinteren Reihe: «Was zappelet denn det enne?» – und schon geht es los.

Twins not Twins
Anfangsszene der Performance

Eine tiefe Stille legt sich über den kleinen Raum. Hände fahren von Innen über den Plastikvorhang. Es raschelt, knittert. Vorsichtige, ineinanderfliessende Bewegungen – die Eine ist kaum von der Anderen zu unterscheiden. Claudia Bucher und Beatrice Im Obersteg sind eins unter diesem Vorhang, bis eine beginnt, auszubrechen. Mit langsamen, schlängelnden Bewegungen windet sie sich aus dem Plastik raus. Ein Ballon im Mund, ein kurzes Auflachen der Zuschauer*innen und im nächsten Moment ein überraschtes Luftschnappen, als der Ballon platzt. Währenddessen macht Im Obersteg Gebrauch von einem Vorschlaghammer, später einer Leiter, die sie mit einer tänzerischen Leichtigkeit zieht und schwingt. Auf faszinierende Weise verwandelt sie die ungewohnten Objekte zu Tanzpartnern und Geräuschelieferanten zugleich. Die Besucher*innen sind gebannt und während knapp einer Stunde zeigen die beiden Frauen in bewegten Bildern, wie sie gleich und doch nicht gleich sind.

Twins not Twins
Engel in Plastik? Oben: Claudia Bucher, unten: Beatrice Im Obersteg

Der hohe Raum wird zur Darstellung der Hierarchie gebraucht, übereinander führen Bucher und Im Obersteg gleiche Bewegungen aus, jedoch verzögert und jede auf ihre eigene Art und Weise. Die Stille wird erfüllt vom ewigen Rascheln, Keuchen, Stampfen und dem erneuten Aufatmen. Es ist ein stetiges Miteinander und gleichzeitiges Gegeneinander – ein Helfen, einander Ergänzen und doch eine mehrmals wiederkehrende Hervorhebung des Unterschiedlich-Seins. Ein immer erneutes Fassen und Loslassen. Sie winden sich im Plastik, umhüllen sich, kleiden sich ein, ziehen sich aus, tauschen die Kleider und machen Gebrauch von unterschiedlichen Materialien. Jede Szene ist neu, andersartig und doch vertraut.

Twins not Twins
Kämpferische Auseinandersetzung

Ein einziges Mal erklingt Musik, die nicht von den Rhythmen und Bewegungen des Duos verursacht ist: Frank Sinatra trällert fröhlich aus einem Radio und zeitgleich bauen sich die Frauen eine Art schwebende Bühne. Mit blauem und rotem Marker malen sie sich zuerst selbst, dann gegenseitig an. Ein intimes Geschehen, dass dann durch ein kämpferisches Auseinandersetzen mit dem Kragen des Pullovers jäh gebrochen wird. Die Performance wird wilder, aufbrausender, ein verzweifeltes Gegeneinander und dann, endlich, die ersehnte Versöhnung. Langsam verschmelzen die Frauen miteinander, tanzen, schaffen in ihren Ausführungen bewegte Skulpturen und fesselnde Bilder. Ganz sachte verschwinden beide unter Buchers weitem Rock, bis sie schliesslich wieder versteckt sind unter hellem Stoff, nur dieses Mal auf der hängenden Plattform schwingend. Eine Zurückführung zur Ausgangslage, oder vielleicht doch mehr ein erneutes Zueinanderfinden?

Twins not Twins
Schlussszene – wie am Anfang?

Claudia Bucher und Beatrice Im Obersteg bebildern in einer wunderschönen, faszinierenden Darbietung, wie gleich und – simultan! – wie unterschiedlich zwei Personen sein können. Obwohl es erst die dritte «Twins not Twins»-Kollaboration in diesem Jahr war, versprühen sie ein intimes Verhältnis zueinander. Aus unterschiedlichen Richtungen kommend, zeigen die Performance-Art-Künstlerin Bucher und die Tanzschaffende Im Obersteg auf, dass das Miteinander ein stetiger Lernprozess ist. Das trifft gerade auch auf sie persönlich zu. Denn der Schwierigkeit, bei sich selbst bleiben zu können und trotzdem auf die andere Person zu achten und auf sie einzugehen, mussten sie sich ebenfalls stellen.

Die Fähigkeit der beiden Frauen, sich mit solcher Hingabe, Konzentration und so gefühlvoll auf ihr Schaffen einzulassen, ist beeindruckend. Vor Zerbrechlichkeit haben sie keine Angst, und ein paar Stellen ihrer Performance sind improvisiert, was dem Ganzen zusätzliche Leidenschaft verleiht. Für jede ihrer Kollaborationen lassen sie sich direkt vom jeweiligen Raum inspirieren. Die anregende Lokalität trägt am Sonntag zu diesem einmaligen Erlebnis erheblich bei und bildet, als ehemaliges Turbinenversuchshaus mit seiner besonderen Atmosphäre, den Raum mit vielen Möglichkeiten. 

Im Frühling 2019 folgen drei weitere Perfomances von «Twins  not Twins» an verschiedenen Orten.
Eigene Projekte der beiden Frauen:
Claudia Bucher
Beatrice Im Obersteg